«Es gab Situationen, da fühlten wir uns wie Popstars»

Aldina Camenisch und Mischa Marti verlegten den Familienalltag mit ihren drei kleinen Kindern für 16 Monate in die vibrierende Grossstadt Guangzhou – und nahmen nun einiges vom chinesischen Lebensgefühl mit nach Köniz.

Chinesischer Spirit auf der schweizerischen Wohlstandsinsel. Aldina Camenisch und Mischa Marti mit Lenz, Mira und ??????????Wanja (von links) vor ihrem Haus in Köniz.



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Frau Camenisch, Herr Marti, seit einigen Wochen sind Sie zurück aus China. Wie fühlt es sich an?
Mischa Marti: Sehr gut, danke. Doch mir fällt auch in Ihrer Frage der Unterton auf, der uns jetzt oft begegnet: Seid ihr froh, wieder zurück zu sein aus China? Als hätten wir an einem Unort gelebt. Das Gegenteil war der Fall. Es ging uns allen bestens.

China verbinden wir mit Luftverschmutzung, infernalischem Arbeitsrhythmus, staatlicher Überwachung.
Aldina Camenisch: Natürlich gibt es das alles auch. Aber das westliche China-Bild ist schon einseitig. Vieles von dem, was wir erlebten, würde man wohl nicht mit China in Verbindung bringen.

Zum Beispiel?
Camenisch: Wir wohnten in der südchinesischen Stadt Guangzhou, die etwa 20 Millionen Einwohner hat, zwei Zugstunden von Hongkong entfernt ist und zum Pearl-River-Delta gehört, einer der grössten urbanen Landschaften weltweit. Guangzhou ist zwar eine chinesische Boomtown, aber auch geprägt von tropischer Lockerheit und Multikulturalität. Neben Ausländern aus dem Westen hat es bemerkenswerte schwarzafrikanische, indische und arabische Communitys. Eine richtig lässige Stadt.

Und die Luftverschmutzung?
Marti: Die war, etwa im Vergleich zu Peking, ziemlich okay. Wir lebten in einem sehr grünen Quartier, umgeben von einem riesigen Park, vom Balkon unserer Wohnung sahen wir nichts als tropischen Wald und irgendwo auf einem Hügel eine Pagode. Beste Lebensqualität. Bei hohen Schadstoffwerten verbot es die Schule den Kindern, draussen zu spielen. Das kam während unseres Aufenthalts bloss etwa dreimal vor.

Wie muss man sich das Leben in einem chinesischen Quartier vorstellen?
Marti: Unsere Wohnung befand sich in einem Quartier für die obere Mittelschicht, standardmässig abgeriegelt mit einem Zaun. Solche Compounds sind nichts Extravagantes, sondern ziemlich normal, eine Art Übertragung des dörflichen Nachbarschaftsgefühls in die Grossstadt. Für uns gewöhnungsbedürftig waren die immer sehr freundlichen Sicherheitsleute, die herumstanden, wohin man kam. Allerdings war unser Sicherheitsgefühl auch ohne sie überall in China noch grösser als in Bern.

Wie prägt der Wirtschaftsboom den Alltag?
Camenisch: Auf den ersten Blick fallen die enorm vielen teuren Autos auf, mit denen die Leute herumfahren. Krasser als in der Schweiz. Und dann das Tempo des Lebens und die Geschäftigkeit! Auf dem Schulweg unserer Kinder wurde eine neue Hochhaussiedlung gebaut. Als wir ankamen, sah man noch nichts davon, nach 16 Monaten war sie praktisch fertig. Die Dynamik, der ständige Wandel, die Lebendigkeit, die Masse, ist schon sehr beeindruckend und mitreissend.

Besonders im Vergleich zur Schweiz.
Camenisch: Wir reden ja von Dichtestress in der Schweiz. Aber seit wir aus China zurück sind, ist für mich das Auffallendste, wie wenig Leute bei uns vielerorts unterwegs sind. Jetzt freut es mich manchmal richtiggehend, wenn ich zu Stosszeiten im ÖV oder im Berner Bahnhof in den Menschenfluss eintauchen kann.

Geht es den Chinesen wirklich nur ums Arbeiten im Leben?
Marti: Einerseits sind Chinesen weder fauler noch fleissiger als wir – aber sie können im aktuellen Wirtschaftsumfeld mehr erreichen als wir bei uns, wenn sie sich voll ins Zeug legen. Dieses Bewusstsein für die eigenen Möglichkeiten haben wir sehr oft angetroffen. Anderseits ist der Sozialstaat weniger ausgebaut, und die Menschen sind stärker auf sich gestellt, was den Leistungsdruck, aber wohl auch die Leistungsbereitschaft erhöht.

Auch Chinesen brauchen mal Pausen.
Marti: Sicher. Grundsätzlich haben meine chinesischen Arbeitskollegen die gleichen Sorgen beschäftigt wie mich. Sie haben überhaupt nicht nur die Arbeit im Kopf. An der Privatschule, an der ich unterrichtete, hätten die chinesischen Lehrerinnen und Lehrer gerne an eine staatliche Schule gewechselt, weil sie dort bereits mit 50 Jahren in die Frühpension könnten.

Ziemlich bequem.
Marti: Mich beeindruckte aber auch, wie schnell sich Chinesen begeistern lassen von Ideen, die im Team eingebracht werden. Man kramt nicht als Erstes Bedenken hervor. Und dann der chinesische Pragmatismus: Wenn es ein Problem gibt, wird eine Lösung gesucht. Ziemlich cool.

Camenisch: Viele Chinesen, die Wohlstand angehäuft haben, setzen sich jetzt als Frührentner zur Ruhe. In einfachen Dienstleistungsberufen scheinen Angestellte oft lange Präsenzzeiten zu haben, dafür sieht man sie während der Arbeit eher mal ausspannen, wenn gerade nichts läuft. Vieles geht rascher, unkomplizierter ab. Es ist nicht so, dass man als Jungunternehmer zwei Jahre an einem Businessplan tüftelt und ein Jahr Geld sucht. Wie ich von Schweizer Jungunternehmern in China gehört habe, kann man viel schneller etwas auf die Beine stellen – erfährt aber ebenso schnell, ob es funktioniert oder nicht.

Nun stottert aber der chinesische Wirtschaftsmotor.
Marti: Uns können es die Chinesen nicht recht machen. Wenn ihre Wirtschaft brummt, empfinden wir sie als Bedrohung. Schwächelt Chinas Wirtschaft, zittern wir alle. Was mir auffiel: Viele Chinesen sind stolz darauf, was sie wirtschaftlich vollbracht haben. Gleichzeitig ist die dunkle Epoche der Kulturrevolution in den persönlichen Erinnerungen präsent. Das Bewusstsein ist deshalb da, dass es wirtschaftlich und politisch auch sehr schnell wieder schlechter gehen könnte.

Sie konnten problemlos über die Kulturrevolution reden?
Marti: Ich hatte in privaten Gesprächen nie das Gefühl, jemand würde aus Angst vor Überwachung nicht seine Meinung sagen. Überhaupt war es so, dass Chinesen sich im Alltag recht locker über viele Konventionen und Verbote hinwegsetzen. Natürlich, man weiss, das Internet wird kontrolliert. Doch gibt es einfache technische Wege, die Zensur zu umgehen.

Gefiel es Ihren Kindern in der Privatschule, die sie besuchten?
Marti: Ja, sehr.

Obwohl viel gnadenloser gepaukt wird als bei uns?
Camenisch: Im Vergleich zu unserer Wohlstandsinsel geht es in China viel kompetitiver zu und her. Was wir bei den Familien gesehen haben, die wir etwas näher kennen gelernt haben: Chinesische Kinder machen viele Hausaufgaben, sie lernen auch spätabends noch und am Wochenende.

Weil allen klar ist, wie gross die Konkurrenz ist.
Camenisch: Genau, vor allem, wenn es um die Plätze an der Universität geht. Eine erfolgversprechende Ausbildung erhält man nur an der Uni, die Berufsbildung steht erst am Anfang. Das heisst aber nicht, dass die Kinder in ihrer knappen Freizeit nicht fröhlich draussen am Spielen wären.

Marti: Zwei, drei Schülerinnen meiner Klasse hatten nach der Schule zu Hause einen Privatlehrer, sie spielten Geige und machten Sport. Zeit für freies Spielen bleibt wohl kaum. Für uns ein No-Go. Aber auf mich machten sie nie den Eindruck, dass sie geknechtet würden, im Gegenteil, sie waren reif, gewitzt, zufrieden.

Welchen Stellenwert hat der Westen bei Chinesen?
Camenisch: Viele Chinesen sind sehr gut über die westliche Geschichte und Kultur im Bild, und auch über die Schweiz – im Gegensatz zu uns, die wir oft wenig über China wissen. Vor allem bei jungen Chinesinnen und Chinesen ist das Westliche extrem angesagt. In chinesischen Ferienorten trafen wir etwa westlich gestylte Bars und Coffeeshops an. Und die Konsumorientierung ist schon frappant, etwa in den riesigen Shoppingmalls, in denen viele Leute ganze Wochenenden verbringen. Aber mehr und mehr Chinesen kritisieren die Überhöhung des Westens und fordern eine Rückbesinnung auf chinesische Werte und Traditionen.

Wie begegnete man in China Ihnen persönlich?
Marti: Ich würde von positivem Rassismus sprechen. Wir genossen häufig eine Vorzugsbehandlung. Es gab Situationen, da fühlten wir uns wie Popstars, weil wir dauernd fotografiert wurden – vor allem unsere Kinder mit für asiatische Massstäbe grossen Augen. Täglich, auf der Strasse, in der U-Bahn, überall schossen die Leute Bilder von ihnen. In der Stadt ging es noch, aber auf dem Land war es teilweise fast surreal. Zum Glück haben sich unsere Kinder zu Hause schnell wieder ans normale Aufmerksamkeitsniveau gewöhnt.

Camenisch: Wenn ich heute Asiaten sehe, die in der Schweiz leben, denke ich oft daran, mit welcher Gastfreundschaft man uns in China begegnete. Von dieser Willkommenskultur sind wir hier sehr weit entfernt. Allerdings bleibt man in China auch für immer ein Gast. Konzepte wie Integration existieren nicht. Wirklich zur Chinesin werden, das kann man wohl nicht.